Redebeitrag: Gedenken erkämpfen • antifaschistisch & autonom

Redebeitrag, gehalten am 25.10.2025 auf der Demo Gedenken erkämpfen • antifaschistisch, autonom.

Am 1. Juni 1991 wurde Gerhard S. aus einer Straßenbahn gestoßen und starb an den Verletzungen. Am 28. Mai 1994 wurde Klaus R. nach tagelanger Erniedrigung ermordet. Am 17. Dezember 1995 wurde Gerhard Helmut B. mit Schlägen und Tritten in einem Abrisshaus misshandelt und getötet. Am 30.12.1995 Horst K. in der Straßenbahnlinie 15 angezündet. Am 8. Mai 1996 wurde Bernd G. erstochen. Am 23. Oktober 1996 Achmed B. Am 4. Juli 1998 wurde Nuno L. so schwer gegen den Kopf getreten, dass er im Dezember an den Folgen starb. Am 4.10.2003 wurde Thomas K. erstochen. Karl-Heinz T. am 23.8.2006 zu Tode geprügelt. Kamal K. am 24.10.2010 erstochen.

All diese Menschen wurden ermordet. Die Täter waren in allen Fällen Nazis. Nazis, denen langweilig war; Nazis, die es eine gute Idee fanden, jemanden anzuzünden; Nazis, die sehen wollten, was passiert, was geht; Nazis mit Spaß an der Sache.
Ihre Opfer wollten nicht sterben. Sie wollten leben und lebten normale Leben. Weil sie arm waren oder weil sie aussahen, als kämen sie nicht von hier, wurden sie zu den Zielen ihrer Mörder. Mörder, die eine Bestätigung haben wollten dafür, dass das Leben derer, die sie mordeten, tatsächlich so wenig wert war, wie es ihnen vorkam. Und es war und ist ein anhaltender Kampf, den Ermordeten den Wert ihres Lebens zurückzugeben. Dagegen zu kämpfen, dass sie zu dem werden, was die Nazis aus ihnen machen wollten: ein Nichts, eine Bedeutungslosigkeit. Es ist ein Kampf darum, dass die Mörder nicht gewinnen.
Wir könnten sagen: Gedenken ist eine linke, eine antifaschistische Praxis. Aber: Dies wäre nur eine Behauptung, denn die Wirklichkeit sieht anders aus. Es ist, wie sich feststellen lässt, allzu häufig niemandes Praxis. Die Gedenkkundgebungen sind schlecht besucht oder fallen ganz aus. Manchmal werden die Ermordeten dem eigenen Zweck nach umgedeutet zu Heroen in einem größeren Konflikt, an dem sie gar nicht hatten teilnehmen wollen. Werden vom Mordopfer zum „Gefallenen für die aufrechte Sache“. Mag auch dies ein Versuch sein, ihnen einen Wert und Bedeutung zu geben, so ist es das doch nicht: Denn ihren Wunsch zu leben, ihren Widerwillen gegen ihr eigenes Ende, das beides hatten sie, ganz ohne edlen Zweck schon, ganz wie es jedem Menschen zustehen sollte; ganz ohne Leistung.
Dies aber tritt gegenwärtig durch alle gesellschaftlichen Bereiche in den Hintergrund. Die Bedeutungslosigkeit aller greift um sich und längst werden in größeren Konflikten ungezählte Menschenleben ausgelöscht; sie erreichen uns wenn überhaupt nur noch in der Form der Statistik; als große Zahl. Längst haben wir uns alle daran gewöhnt, sie in dieser statistischen Form zu vergleichen. Längst schrecken uns kleinere Todeszahlen nur noch wenig, und selbst große Todeszahlen verlieren ihr Grauen. Der Tod tritt uns als Quantität entgegen, nicht als Qualität.
Wenn wir uns aber dem hingeben; wenn wir die Quantität zum Marker werden lassen, an dem wir Schrecken und Gräuel messen, dann haben wir uns ganz gemein gemacht mit der gewalttätigen Struktur der Ökonomie, in der alles auf der Welt, ob Leben oder Tod, in eine Menge eingerechnet ist. Dann brauchen wir auch hier in Leipzig keine Namen mehr zu kennen. Dann reicht es, wenn wir eine Summe aus den Toten bilden: 10 Menschen in Leipzig von Nazis ermordet. Es klingt schon weniger bitter, wenn es so gesagt wird. Und noch weniger bedrückend ist es, wenn wir uns aufrechnen, dass am Vortag die zehnfache Zahl mit einem Boot in den Wellen des Mittelmeeres unterging, namenlos und gesichtslos.
Wenn wir aber so gedenken würden, dann würden wir gar nicht mehr gedenken; und wenn wir nicht mehr einzelnen Menschen in ihrer ganz gewöhnlichen Qualität gedenken, dann gedenken wir niemandem mehr. Dann ist der Inhalt eines Lebens egal und gleichgültig. Und wenn dies so ist, dann ist der Zustand eingetreten, den die Faschisten seit jeher ersehnen, dann bestätigen wir das, was die Mörder vor ihrer Tat noch nur ahnten: dass alles Leben bedeutungslos ist. Dann gehört das Gedenken den Heroen, dann muss der Einzelnen zum aufrechten Kämpfer werden für irgendeine Sache; erst dann gebührt ihm Applaus und Anerkennung. Dann aber haben wir verloren.
Wenn es also heute heißt: Gedenken erkämpfen, dann ist das nicht nur etwas, das wir erkämpfen müssen, von irgendwem, sondern es ist etwas, was wir auch von uns selbst erkämpfen müssen. Den Widerspruch, der sich zwischen dem Einzelnen und der Masse auftut, werden wir nicht aufheben können. Wenn wir ihn aber einseitig zur Masse hin auflösen, dann bejubeln wir unsere eigene Belanglosigkeit, und im Vergessen des Einzelnen das Vergessen aller.

In diesem Sinne: Gerhard S. Klaus R. Gerhard Helmut B. Horst K. Bernd G. Achmed B. Nuno L. Thomas K. Karl-Heinz Teichmann. Kamal K.

Wir kannten euch nicht – aber wir vergessen euch nicht. Euch nicht – und auch nicht eure Mörder.

Bildrechte: PM Cheung
Herzlichen Dank für die Bereitstellung!