Redebeitrag des Bündnis Reclaim Antifa zum 9.11.

Redebeitrag des Bündnis Reclaim Antifa gehalten am 9. November 2025 auf der Kundgebung im Gedenken an das Novemberpogrom 1938

Liebe Besucher:innen der Kundgebung der Gruppe Alea anlässlich des 9.11., der diesjährigen 87. Jährung der Pogromnacht, wir freuen uns, dass wir dieser Veranstaltung ein paar Worte beisteuern dürfen, und vor allem freuen wir uns darüber, dass die Gruppe Alea die heutige Kundgebung organisiert hat. Wir haben uns ein Guilty Pleasure erlaubt und eine kleine Polemik verfasst.

In ihrem Kundgebungsaufruf schreibt die Gruppe Alea: „Der Schrecken der Shoah wirkte lange nach, und wenngleich der Antisemitismus selten ganz verstanden wurde und vor allem nie ein Ende fand, so wurden Angriffe auf Juden:Jüdinnen dennoch mit einem gesellschaftlichen Tabu belegt. Ein Antisemit zu sein, das war etwas, was sich nur die verruchtesten unter den alten und neuen Anhängern des Nationalsozialismus über sich zu sagen trauten.“

Damit haben sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Ein Tabu und sonst nichts – genau das ist der Antisemitismus für die meisten Menschen. Antisemit:in zu sein, das ist in erster Linie unanständig, und wenn es jemand ist, dann die anderen. Dieser Zustand bringt die Deutschen, die zu verarbeiten haben, dass beinahe all ihre Vorfahren einen Teil zu den sechs Millionen toten Juden:Jüdinnen beigetragen haben, zu abenteuerlichen Verrenkungen.

Da gibt es diejenigen, die ihre Schuldabwehr in Philosemitismus ertränken und ihren Anstand dadurch unangreifbar machen wollen. In der Schule einmal „Hevenu Shalom Aleichem“, zu Deutsch: „Wir wünschen Frieden für euch alle“, gelernt, trällern sie dieses versöhnliche Lied immer mit, wenn sie nur das große Glück haben, einmal wirklich auf einen „echten Juden“ zu treffen – natürlich nicht ohne kurz zusammenzuzucken, wenn die Person dann doch etwas Unversöhnliches sagt. Es gibt diejenigen, die sich für ihre Großeltern einen kommunistischen, jüdischen, sozialdemokratischen – auf jeden Fall anständigen, weil nicht nationalsozialistischen – Background zusammenlügen. Übertroffen werden diese „Betroffenheitsdeutschen“ noch von den Expert:innen, die meinen, dass Antisemitismus längst abgehakt sei, sie nun durch das Erinnern immun gegen diesen seien und sich daher auch mit der Sache nicht weiter beschäftigen müssten. Stattdessen sind sie noch viel anständiger, decken nun penibel die Fehler der Juden auf und wähnen sich dabei auf der Seite der „wirklich“ Unterdrückten. Fein gemacht!

Dahinter verbirgt sich keine tiefgründige Analyse; dahinter versteckt sich nur der kaum verhohlene Versuch, den eigenen Antisemitismus und den der anderen zu verbergen, um sich wieder unbeschwert mit einem Kollektiv identifizieren zu können. Nicht anders ist die Paradoxie zu erklären, dass dieselben stalinistischen Gruppen, die heute im Leipziger Osten eine eigene Gedenkveranstaltung aufführen, zugleich die antisemitische Gewalt des 7. Oktober verharmlosen. Auch das ist das Resultat einer instrumentellen Gedenkpolitik. Wenn Erinnerung zur beruhigenden Folklore wird, verliert sie ihre Kraft der Reflexion – und verliert ihren Anspruch auf Konsequenz. Das aufgestellte Tabu des Antisemitismus bleibt fragil und droht jederzeit umzustürzen.

Diese „anständige“ Erinnerungskultur – ruhig und bedächtig – ist zugleich der Grund für die Zahnlosigkeit der Erinnerung an den NS. Zwar ist nicht zu leugnen, dass die Deutschen in über 80 Jahren des Erinnerungsweltmeisterns etwas dazugelernt haben. Zu den wichtigsten dieser Erkenntnisse der Grundgesetzpatrioten gehört jedoch, wie man die Shoah für Deutschland nutzbar machen kann. Erinnern kostet nichts. Erinnern tut den meisten Deutschen nicht einmal mehr weh, sondern ist zu einer Quelle ihrer Identität geworden. So wird der Rekurs auf die Taten der Eltern instrumentalisiert als Legitimation für den Staat der Enkel und sein Handeln. Nach wie vor bleibt die Aufarbeitung der Vergangenheit, die erst die Grundlage für ein „Nie wieder“ sein kann, lückenhaft. Ohne fundamentale Konsequenzen verkommt sie sogar zur hohlen Phrase. Das prangern wir an!

Versteht uns nicht falsch – dieses Tabu, dieser Anstand – das ist besser als nichts, und es erschreckt uns jedes Mal, wenn damit gebrochen wird. Vielleicht ist das Einhalten dieses Tabus auch alles, was wir von der bürgerlichen Gesellschaft erwarten können. Die ihr innewohnenden Widersprüche machen es zwar möglich, eine Verwirklichung des Versprechens der Aufklärung von einer besser eingerichteten Welt einzufordern. Zugleich beinhaltet diese widersprüchliche Gesellschaftsordnung immer die Möglichkeit eines Rückfalls. Faschismus und Nationalsozialismus sind nichts, was von außen über sie gekommen ist, sondern gingen aus ihr hervor. Dies gilt vor allem in Deutschland, wo bürgerliche Verwertungslogik und postnazistische Ideologie aufs Engste verbunden sind. So ist es wenig verwunderlich, dass diese bürgerliche Gesellschaft das bloße Minimum, dass Juden:Jüdinnen leben dürfen, befreit von der Angst, vernichtet zu werden, auf Dauer nicht gewährleisten kann. Daran ändern auch die Tränen von Friedrich Merz nichts. Als radikale Linke sind wir nicht für Minimalforderungen angetreten. Wir sind angetreten, die Bedingungen der Möglichkeit einer Wiederholung der deutschen Taten abzuschaffen! Dafür, dass es nicht nur ein wackeliges Tabu ist, was jüdisches Leben schützt. Wir sind angetreten, damit die Deutschen ihre anständigen Lichterketten einpacken, bevor sie doch noch ins nächste Schaufenster fliegen, dass sie stattdessen endlich ernsthafte Konsequenzen aus der Vergangenheit ziehen, endlich vor sich selbst erschrecken und beginnen, die Gegenwart zu bewältigen.