Schostakowitschs 13. Sinfonie
Redebeitrag von alea gehalten am 9. November 2025 auf der Kundgebung im Gedenken an das Novemberpogrom 1938
Für das Ende der heutigen Kundgebung haben wir uns dazu entschieden ein Musikstück abzuspielen. Es ist der erste Satz der 13. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Komponiert und Uraufgeführt 1962 in der Sowjetunion. Die Grundlage für den ersten Satz bildet das Gedicht Babi Jar von Jewgeni Jewtuschenko. Ein Gedicht, dass zur Zeit seiner Entstehung 1961 stark umstritten war und Anlass gab zu zahlreichen Debatten in der sowjetischen Gesellschaft und Politik. Die 13. Sinfonie landete dann auch 1963 bereits auf der Verbotsliste.
Die Schlucht von Babi Jar ist der Ort vor den Toren Kiews, an dem die deutschen Schlächter am 29. und 30. September 1941 in knapp 36 Stunden über 33.000 Jüdinnen und Juden erschossen. Bis zur Befreiung durch die Rote Armee folgten noch viele weitere Massaker mit zehntausenden Toten.
Eine der wenigen Überlebenden vom September 1941 – Dina Pronitschewa – schreibt: “Vielleicht waren die Menschen im Sterben und im Tod gleich, aber jeder war anders bis zum letzten Moment, jeder hatte andere Gedanken und Vorahnungen, bis alles klar war […].“
Jewtuschenko in seinem Gedicht und Schostakowitsch in seiner Sinfonie klagen an, dass in Babi Jar kein Denkmal steht. Thematisiert wird darüber auch die Judenfeindlichkeit und der Antisemitismus in der sowjetischen Gesellschaft.
Gesang und Chor der 13. Sinfonie sind so nüchtern wie die Musik. Kein Pathos ist zu hören. Beide, Dichter und Komponist stellen die Mahnung ins Zentrum, dass die Befreiung erst erreicht werden kann, wenn der Antisemitismus aus den Köpfen und damit der Gesellschaft getilgt ist.
Zum Ende des Gedichts schreibt Jewtuschenko:
Die Internationale —
ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer.
„Babij Jar“ von Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko (Übersetzt von Paul Celan)
Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang – der eine, unbehauene Grabstein.
Mir ist angst. Ich bin alt heute, so alt wie das jüdische Volk,
Ich glaube, ich bin jetzt
ein Jude.
Wir ziehn aus Ägyptenland aus, ich zieh mit.
Man schlägt mich ans Kreuz, ich komm um,
und da, da seht ihr sie noch: die Spuren der Nagel.
Dreyfus, auch er,
das bin ich.
Der Spießer
denunziert mich,
der Philister
spricht mir das Urteil.
Hinter Gittern bin ich.
Umstellt.
Müdgehetzt.
Und bespien.
Und verleumdet.
Und es kommen Dämchen daher, mit Brüsseler
Spitzen,
und kreischen
und stechen mir ins Gesicht
mit Sonnenschirmchen.
Ich glaube, ich bin jetzt
ein kleiner Junge in Bialystok.
Das Blut fließt über die Diele, in Bächen.
Gestank von Zwiebel und Wodka, die Herren
Stammtisch-Häuptlinge lassen sich gehn.
Ein Tritt mit dem Stiefel, ich lieg in der Ecke.
Ich fleh die Pogrombrüder an, ich flehe – umsonst.
“Hau den Juden, rette Rußland!” –:
der
Mehlhändler hat meine Mutter erschlagen.
Mein
russisches
Volk!
Internationalistisch
bist du, zuinnerst, ich weiß.
Dein Name ist fleckenlos, aber
oft in Hände geraten, die waren nicht rein;
ein Rasselwort in diesen Händen, das war er.
Meine Erde – ich kenne sie, sie ist gut, sie ist gütig.
Und sie, die Antisemiten, die niederträchtigen, daß
sie großtun mit diesem Namen:
“Bund des russischen Volks”!
Und nicht beben und zittern!
Ich glaube, ich bin jetzt sie:
Anne Frank.
Licht-
durchwoben, ein Zweig
im April.
Ich liebe.
Und brauche nicht Worte und Phrasen.
Und brauche:
daß du mich anschaust, daß ich dich anschau.
Wenig Sichtbares noch,
wenig Greifbares!
Die Blätter – verboten.
Der Himmel – verboten.
Aber einander umarmen, leise,
das dürfen, das können wir noch.
Sie kommen?
Fürchte dich nicht, was da kommt, ist der Frühling.
Er ist so laut, er ist unterwegs, hierher.
Rück näher.
Mit deinen Lippen. Wart nicht.
Sie rennen die Tür ein?
Nicht sie.Was du hörst,ist der Eisgang,
die Schneeschmelze draußen.
Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras.
Streng, so sieht dich der Baum an,
mit Richter-Augen.
Das Schweigen rings schreit.
Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle,
ich werde
grau.
Und bin – bin selbst
ein einziger Schrei ohne Stimme
über tausend und aber
tausend Begrabene hin.
Jeder hier erschossene Greis –:
ich.
Jedes hier erschossene Kind –:
ich.
Nichts, keine Faser in mir,
vergiß das je!
Die Internationale –
ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer.
Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern.
Aber verhaßt bin ich allen Antisemiten.
Mit wütigem schwieligem Haß,
so hassen sie mich –
wie einen Juden.
Und deshalb bin ich
ein wirklicher Russe.
