Abweg>Holzweg – Eine Antwort auf den Text “alea auf Abwegen?”
Vermutlich wirklich niemand ist gerne Objekt der Verwaltung, und trotzdem ist man es. Auf welche Weise die Verwaltung einen erfasst, ist von außen nicht immer nachvollziehbar, und zugleich hat es meistens einen klar bestimmten Grund: Wer zB einen Hund hat, der hat, wenn er von der Verwaltung erfasst wird, mit dem Ordnungsamt zu tun und muss dann Hundesteuer zahlen. Auch wir wurden kürzlich mit der Verwaltung konfrontiert wegen eines Redebeitrags, den einige Genoss:innen von uns zum 9.11. geschrieben hatten, aber nicht mit dem Ordnungsamt oder einer verwandten Behörde, sondern mit der „Elendsverwaltung“. Und da die Elendsverwaltung ja ganz offenkundig die Behörde zur Verwaltung des Elends ist, ist nun offiziell, was wir nur ahnen konnten: dass wir ein Elend sind und als Elend irgendwie verwaltet werden müssen. Wer nun denkt: „Elendsverwaltung, nie gehört, das ist sicher keine richtige Verwaltung“, der sei zumindest einmal auf die Ähnlichkeit eines Schreibens, das man aus der Verwaltung erhält zum aktuellen Schreiben an uns hingewiesen: Distanziertheit der Sprache, Mangel an Bezug zum verwalteten Gegenstand, unstrukturierte Darstellung, übertriebene Formalität, fehlende Klarheit.
Jetzt sind wir gar keine Feind:innen der Verwaltung und zugleich keine Freund:innen der verwalteten Welt, sondern nehmen alles erstmal, wie es ist, damit es irgendwann anders werden kann, als es ist. Und das bedeutet für uns, dass wir verstehen wollen, was denn da mit uns gemacht wird. Und siehe da, der Verwaltungsgrund kommt: Es geht darum, Aufschluss über unsere Bedürfnisse zu erlagen, insbesondere über ein Bedürfnis: Die Frage soll geklärt werden, „[…] welches Bedürfnis sich in dem Freispruch der Antizionisten vom Antisemitismus ausdrückt“. Dazu soll noch „[…] dem vorausgesetzten Subjektbegriff, der sich in den Ausführungen von alea darstellt“ nachgegangen, also dem Elend auf den Grund gegangen werden. Why not?
1. Zum Begriff der Kritik
Wir werden ja nicht müde zu erwähnen, dass wir uns über Debatte und Austausch freuen – nicht weil das unser „Bedürfnis“ ist, sondern weil wir denken, dass ohne Debatte und Austausch etwas Wichtiges nicht zustande kommt, was wir aber aktuell dringend brauchen: Einen Begriff davon, was eigentlich in der Welt gerade passiert. Denn: So klar, wie leider allzu viele Menschen denken, ist das nicht, und das Notwendige dazu wird nicht gewusst. Und deswegen freuen wir uns natürlich, wenn sich jemand kritisch mit unseren Beiträgen auseinandersetzt. Was aber heißt es eigentlich, sich „kritisch“ mit etwas auseinanderzusetzen? Viele (so auch die Elendsverwaltung) scheinen zu glauben, dass eine kritische Auseinandersetzung so funktioniert: Man sagt, dass man das, was man kritisiert, falsch findet, schmäht die Verfasser:innen ein wenig, und dann füllt man den Rest des Textes mit einer Darstellung des eigenen Denkens. Da, wo es um die Sache gehen sollte, spricht man von sich selbst. Es geht nicht darum, sich einem fremden Gedanken zu überlassen, ihn nachzuvollziehen und dann seinem Mangel zu überführen, oder wenn möglich sogar den Mangel am Ende zu beheben. Fremdes Denken wird als Konkurrenz zum eigenen Denken erlebt, fremde Verfasser:innen als Konkurrent:innen. Und wie das nunmal ist in dieser Welt: Gegen einen Konkurrenten setzt man sich durch – oder versucht es zumindest. Wer so kritisiert, der kritisiert nicht, sondern: Wer so kritisiert, stellt das Denken still. Fremdes Denken wird wie das eigene Denken als statisch erlebt, als wahr oder unwahr, als so oder so. Es geht gar nicht um das, was in einem Widerspruch zu einem selbst steht, sondern es geht um das eigene Selbst; es geht darum, Autorität zu beweisen, einen dominanten Gedanken in seiner hohen Position zu festigen. Und wieso? Welches „Bedürfnis“ steckt dahinter? Dahinter steckt ein identitäres Bedürfnis. Man hat einen Gedanken gefunden, der einen durch seine Kraft beeindruckt hat, man macht sich identisch mit diesem Gedanken, und wenn nun dieser Gedanke infrage gestellt wird, etwa durch einen Text oder Redebeitrag von uns, dann muss man ihn abwehren: Durch die Identität mit einem bestimmten Gedanken ist ein Infragestellen dieses Gedankens auch zu einem Selbst-Infragegestelltwerden geworden. Um nicht selbst denken zu müssen, klammert man sich an einen bereits gedachten Gedanken, einen Gedanken, dessen Selbstbewegung man noch zu verneinen gelernt hat. Und damit hat man den Weg zur Ideologie eingeschlagen.
Wenn wir nun als Gruppe einen Text veröffentlichen oder einen Redebeitrag halten, dann ist unser Ziel dahinter natürlich, dass sich mit dem Inhalt auseinandergesetzt wird, sonst würden wir alles einfach für uns behalten und hätten unseren Frieden damit. Zwei Sachen wollen wir aber definitiv nicht. Erstens: Dass uns blind zugestimmt wird. Wir glauben gar nicht, dass das viel vorkommt, aber in den bisherigen öffentlichen „Kritiken“ wurde bisher immer die Sorge geäußert, dass man uns zustimmen würde, und es wurde davor gewarnt, uns zuzustimmen, und daher wollen wir diese Warnung hier wiederholen: Es geht uns nicht um Zustimmung, sondern darum, zu versuchen, das, was um uns herum in der Welt passiert und über dessen Verlauf die Menschen jede Kontrolle verloren zu haben scheinen, besser in den Blick zu bekommen, damit sich vielleicht doch irgendwann etwas ändern kann. Das ist es, wieso wir unsere Gedanken teilen: Dieses Vermögen in uns allen zu steigern – nicht durch Zustimmung, sondern durch aktive Auseinandersetzung mit der Welt, und zwar mit der Welt in ihrer aktuellen Gestalt, dh wir müssen unsere Theorien und unsere Begriffe an dieser aktuellen Welt bilden, und nicht das Denken anderer nutzen, um ein Bild über die Welt zu haben.
Und zweitens: Wir wollen nicht behaupten, dass wir am Ende des Denkens angekommen sind. Das sind wir nicht, so denken wir nicht über uns selbst, und so denken wir schlicht auch über niemanden, weil es keine ewige oder statische Wahrheit gibt. Wir formulieren keine festen Theoriegebäude, sondern wir drücken aus, was wir denken, was sich als Ergebnis unserer eigenen Debatten und Gespräche einstellt. Dass andere daran partizipieren können, ist unser Anliegen. Und ja, wir veröffentlichen einen Text, wir halten einen Redebeitrag, weil wir damit das Denken voranbringen wollen und auch denken, dass wir das können, aber sicher nicht, weil wir das bestehende Denken wiederholen und festigen wollen. Die „Elendsverwaltung“ unterstellt uns hier den Wunsch nach einem „Unique Selling Point“, also einen Wunsch nach einer Marketingbesonderheit, als ginge es uns darum, uns selbst irgendwie zu Markte zu tragen, uns selbst zum Besonderen zu machen, als würden wir zwanghaft nach etwas Neuem und damit vor allem Anderen suchen, damit wir uns auf Teufel komm raus von anderen abheben. So fern liegt ja so ein Gedanke nicht, weil es das ist, was die Gesellschaft aus ausnahmslos allen macht: Ein bedeutungsloses Nichts, was nur dann etwas wert ist, wenn es sich selbst verkaufen kann, und der Weg für einen solchen Verkauf ist eben das „Besondere“. Und als Menschen, die sich nicht von anderen unterscheiden und dies weder wollen noch können, sind wir davon genauso berührt wie alle anderen. Aber dies ist nicht der Grund, wieso wir Politik machen, und es ist geradezu unser politisches Anliegen, durch Organisation, durch gemeinsame Reflexion und dadurch, dass wir uns erfahrbar und angreifbar machen, am Ende doch etwas anderes zu haben, als dass unser Denken doch nur Ware ist. Nur falls hier irgendeine Art von Verwirrung aufgetreten ist: Wir profitieren von unserer politischen Tätigkeit nicht, weder finanziell noch persönlich: Vielmehr bringt sie ziemlich viel Mühsal mit sich und wir würden sie doch lieber eher nicht tun, als dass wir sie machen. Wir mögen keinen Szenegossip, wir mögen kein „In- or Out-Sein“, wir mögen keine Konkurrenz mit anderen Gruppen und dergleichen mehr. Mag gut sein, dass man davon trotzdem etwas bei uns finden kann, aber vielleicht trägt man da auch etwas an uns heran.
Das bestehende Denken festigen zu wollen, ist hingegen das Anliegen bisheriger „Kritik“ an uns gewesen: Es wird die eigene Theorie gegen uns hochgehalten, die dann oft so eigen gar nicht ist, wie ja auch die Elendsverwaltung über sich schreibt: Die eigene Theorie hat sich „sedimentiert“, also abgelagert; sie ist ein Bodensatz, der sich wie von allein aus anderen Theorien gebildet hat, ein Sediment, über welches man nicht sprechen will, obwohl es darum geht. Und dieser Bodensatz ist das, was man nicht verlieren will; das, was sich über die Zeit festgesetzt und abgelagert hat, soll bleiben, wo und wie es ist, und wenn dann ein Gedanke aufkommt, der die Gefahr in sich birgt, dass diese Ablagerung wieder in den Fluss kommt, dann wird der eigene Bodensatz umso fester geklopft, je stärker der Sog ist.
Was macht man also mit einer solchen „Kritik“? Denn auf der einen Seite macht es wenig Sinn, noch einmal das zu schreiben, was wir schon im Redebeitrag gesagt haben; auf der anderen Seite drängt sich zwar die Elendsverwaltung mit der eigenen Position nach vorn, will zugleich nicht über „Grundlagen“ sprechen; vielmehr sollen ja wir von unserem „Abweg“ abkehren und wieder das machen, „was doch sonst mit überraschend viel Gedanke daherkommt“, kurz: Wir sollen unsere „Schieflage“ beheben und wieder ganz gerade und ordentlich denken. Wir werden also das machen, was wir in solchen Fällen machen: Wir gehen einfach durch die „Kritik“ hindurch und hoffen, dass dabei das ein oder andere aufgehellt werden kann.
2. Unser falscher Subjektbegriff
Die Elendsverwaltung stellt nach einer kuren Einleitung über sich fest: „Ich bin nicht Herr im eigenen Haus und die Gedanken, die durch meinen Kopf schwirren, haben mich abgelenkt von meinem Willen, strukturiert diesen Text zu schreiben.“ Damit soll aber nicht nur der unstrukturierte Text entschuldigt werden. Vielmehr geht es auch darum, unseren Subjektbegriff zu kritisieren. Dieser ist nämlich falsch, weil wir in den Augen der Elendsverwaltung davon ausgehen, dass man eben doch der „Herr im eigenen Hause“ ist, also das über sich sagt, was der Fall ist, und dass wir damit hinter die Position der Freudschen Psychoanalyse zurückfallen. Freud hat ja insbesondere hervorgehoben, dass wir eben nicht selbstbewusst den Inhalt unserer Gedanken steuern können, sondern dass es andere, unbewusste Motive dafür gibt. Und die Psychoanalyse ist dann das Instrument, mit welchem die verborgenen Motive ins Bewusstsein gehoben werden können. Das bezieht sich wohl auf eine Passage unseres Beitrags:
„Was aber genau ist gemeint, wenn die Freunde der durch nichts mehr gehemmten Befreiung vom gewaltvollen Zwang der bürgerlichen Welt, ihre Gegner als Zionisten beschimpfen, und zugleich darauf beharren, damit nicht die Juden zu meinen? Das ist es, was zu beantworten ist, wenn man sich mit der gegenwärtigen Lage befassen will, und die Antwort auf diese Frage ist wichtiger als der Streit darum, ob ein Antizionist auch noch ein Antisemit ist.“
Die Elendsverwaltung hält uns hier entgegen: Das ist nicht das, was es zu beantworten gibt, weil es ist schon beantwortet, weil der Antizionist ist eben doch einfach ein Antisemit und fertig. Das wird von der Elendsverwaltung ja auch sehr deutlich gemacht: „Um es direkt nochmal zu betonen: Antizionismus lässt sich außerhalb von Israel nicht ohne Antisemitismus denken“. Die Elendsverwaltung glaubt nämlich mit der Psychoanalyse feststellen zu können, dass der Antizionist zwar sagt, er sein nicht gegen die Juden, aber unbewusst ist er es eben doch. Unbewusst trägt er den Judenhass in sich, hat eine rassische Judenvorstellung, hält die Juden für das Übel der Welt. Und es ist nur ein weiterer unbewusster Inhalt aus seinem psychischen Apparat, der verhindert, dass er dies über sich weiß: ein Tabu. Wenn wir jetzt hingehen und den Antizionisten beim Wort nehmen wollen, also wollen, dass man ihm zubilligt, dass er die Juden nicht als antagonistische Rasse begreift, und dass man nun hingehen und untersuchen muss, was das heutzutage bedeutet, dann verkennen wir diese Verfasstheit des psychischen Apparats des Antisemiten. Wir tragen zu seiner Entlastung bei, weil wir ihm helfen, seinen Antisemitismus hinter dem Antizionismus zu verbergen: Wir tätigen einen „Freispruch“, wo aber ein Schuldspruch nötig wäre.
Es ist nun in der Psychoanalyse gerade nicht so, dass die Psychotherapeutin von vornherein weiß, was ihr Patient denn hat, und auch die allgemeine Theorie bietet kein festes Wissen über diesen oder jenen konkreten Sachverhalt. Vielmehr ist es ja ein Sammelsurium an Beobachtungen, wie Menschen ihre psychischen Konflikte lösen, und es sind diese Lösungsstrategien, die dann eine gewisse wiederkehrende Struktur haben. Was wäre der psychische Apparat des Antisemiten in dem Bild, was sich in der Elendsverwaltung sedimentiert/abgelagert hat? Einmal das der pathischen Projektion: Der Antisemit projiziert sein für ihn unbegreifliches Erleben der irrationalen Verhältnisse auf den Juden und identifiziert ihn als den Verursacher dieser Verhältnisse. Und zweitens dem der Verdrängung: Da die Gesellschaft ihm mittlerweile verbietet, den Juden zum Schuldigen zu machen, verdrängt er seinen Judenhass. Weil aber das Verdrängte in entfremdeter Gestalt doch seinen Weg an die Oberfläche findet, wählt der Antisemit nun nicht mehr den Juden als das Ziel seines Hasses, sondern etwas, was mit dem Juden identifiziert ist. Und das sind dann etwa jüdische Organisationen, „die Ostküste der USA“ oder eben Israel.
Die Elendsverwaltung macht hier nun zwei Fehler. Der erste besteht darin, dass geglaubt wird, dass dieser Befund, der ja zu einem bestimmten und konkreten historischen Zeitpunkt aufgestellt wurde, eine durchgehende Gültigkeit besitzt und deswegen nicht mehr neu geleistet werden muss. Man kann einfach daran festhalten und gut ist. Es ist hier eben nicht mehr die strukturelle Identität psychischer Reaktionsbildungen, die aus der Psychoanalyse übernommen wird, sondern es ist die Übernahme des Ergebnisses. Ein solches Feststellen der Ergebnisse, die sich mit den Äußerungen derjenigen, die man da analysieren will, ist mit der Psychoanalyse schlechterdings nicht zu begründen. Vielmehr wäre das, was man da als Ergebnis nun als Allgemeinbefund glaubt, in der Tasche zu haben, selbst eine Projektion, nämlich die Projektion einer Sichtweise auf ein Subjekt, dessen Äußerungen nur quantitativ noch eine Bedeutung haben. Im bereits zitierten Ausspruch: „Um es direkt nochmal zu betonen: Antizionismus lässt sich außerhalb von Israel nicht ohne Antisemitismus denken“ ist dies ja auch festgestellt, und zwar bevor eine Betrachtung vorgenommen wird. Unsere Forderung, das, was die Antizionisten heute über sich sagen, zu untersuchen, anstatt sich auf eine Analyse zu beziehen, die ja zu einem anderen Zeitpunkt in Bezug auf andere Menschen angestellt wurde, wird als unbegründet zurückgewiesen: Das Ergebnis steht nämlich schon fest. Dies Denken wiederholt sich auch, wenn später in anderem Kontext gesagt wird: „Eine kurze Recherche wird dies empirisch belegen“. Auch hier wird das Ergebnis einer empirischen Untersuchung vorweggenommen, wobei ja gerade die Empirie durch die Prüfung einer qualitativen Aussage ihren Sinn bekommt – gesagt wird hier ganz im Gegenteil, dass eine empirische Untersuchung ohnehin obsolet ist, weil ihr Ergebnis durch subjektiven Eindruck schon bekannt ist. Die Elendsverwaltung glaubt hier, über den Sachen zu sein, und deswegen nicht mehr in die Sachen hineinzumüssen. Das aber ist kein kritisches Denken, sondern sein Gegenteil. Es nimmt Statik an, wo keine ist, und mit der vermeintlichen Festigkeit wird dann gegen diejenigen gearbeitet, die auf den Mangel hinweisen. Wenn man aber seine Position behaupten will, dass die Antizionisten von heute die gleiche psychische Struktur aufweisen wie die von damals, dann muss man das zeigen. Ein bloßer Verweis auf Texte, die angetreten sind, das Verhältnis aufzuhellen, reicht nicht.
Der zweite Fehler, der gemacht wird, besteht angrenzend an den ersten, dass hier das Tabu nicht ausreichend reflektiert wird. Der Antisemitismus nach 1945 erfuhr durch die gesellschaftliche Struktur eine internationale Ächtung. Das Tabu, welches die Antisemiten dazu brachte, ihren Hass auf die Juden zu verdrängen und umzulenken auf etwas anderes, ist das Resultat dieser Ächtung. Das Machtverhältnis war hierfür entscheidend: Ein Tabu kann immer nur durch Autorität auferlegt werden. Die offene Feindschaft zu Israel heute aber ist weltweit auf ihrem Höhepunkt angekommen; es ist eine Mehrheit der Staaten auf der Welt, die ihn teilen. Staaten, die ihm widersprechen, schwinden, in ihrer Zahl und verlieren mit ihrer Haltung nicht nur international, sondern auch national an Autorität gegenüber der Bevölkerung. Wenn es nun stimmen würde, dass, wie die Elendsverwaltung es annimmt, all diese Menschen und Staaten, die sich offen gegen Israel stellen, in Wahrheit verdrängte Antisemiten wären, dann müsste man ja feststellen, dass es keine internationale Mehrheit mehr gegen den Antisemitismus gibt, das Tabu seine Autorität verloren hat, ergo die Antisemiten nicht mehr sagen müssten, dass sie Antizionisten seien. Sie könnten ihren Antisemitismus offen ausdrücken, da sie ja die Autorität nicht mehr fürchten müssten. Selbst die Autorität, der gegenüber sie ihren Antisemitismus verheimlichen müssten, wäre ja erkennbar auf ihrer Seite. Ein Antizionismus, der aber nur aus einem Tabu heraus Antizionismus ist, und dann aber ein solcher bleibt, selbst wenn das Tabu fällt, wäre eine qualitative Neuheit. Es würde bedeuten, dass das Tabu zu einem unverrückbaren Teil der Persönlichkeit geworden ist – in diesem Fall hätten wir aber einen Antisemiten, der unter keinen Umständen Antisemit sein kann und auch niemals offen sich zu seinem Antisemitismus bekennen könnte. Darüber müsste die Elendsverwaltung aber etwas sagen, wenn sie es mit ihrer Darstellung und ihrem Bezug auf die Psychoanalyse ernst meinen würde.
Demgegenüber befinden wir uns mit unserer Darstellung in bester Tradition mit der Psychoanalyse, ganz so, wie die Elendsverwaltung es für sich nur wünscht. Denn das, was jemand sagt, zuallererst einmal beim Wort zu nehmen, ist ja gerade der Schlüssel, den Freud mit seiner Psychoanalyse allen in die Hand geben wollte, wenn es um das Verständnis des Unbewussten geht. Den anderen als das zu nehmen, was er ist, nämlich ein Subjekt, ist eine Qualität und kein Mangel; diesem Mangel macht sich die Elendsverwaltung aber selber schuldig, wenn sie fordert, dass diejenigen, die da als Antisemiten betrachtet werden sollen, wesentlich als Objekt betrachtet werden sollen, das über sich nicht mehr aussagen kann, als die Elendsverwaltung ihm zubilligt. Warum aber ist es der Elendsverwaltung denn so wichtig, dass die Antizionisten nicht beim Wort genommen werden dürfen? Wir bleiben hier bei dem, was die Elendsverwaltung dazu sagt: Weil dies ein Freispruch ist, obwohl sie schuldig sind.
3. Unser Freispruch
Schon ganz am Anfang der „Kritik“ schreibt die Elendsverwaltung, dass sie die Frage aufwerfen will, „welches Bedürfnis sich in dem Freispruch der Antizionisten vom Antisemitismus ausdrückt“. Wir lassen jetzt mal weg, dass wir nicht irgendein „Bedürfnis“ haben, jemanden freizusprechen, allein schon deswegen, weil wir uns gar nicht in die Position setzen, irgendjemanden freizusprechen, genauso wenig wie wir jemanden schuldig sprechen, nicht nur im juristischen Sinne nicht, sondern auch schon im theoretischen Sinne nicht, und wir sind auch nicht moralisch. Es geht uns nicht darum, jemanden zu verurteilen, weil er etwas Böses getan hat, oder jemanden freizusprechen, weil er unschuldig ist. Das überlassen wir Richtern, Priestern und Moralisten aller Art, und wer sich damit adeln will, es ihnen gleichzutun, der braucht auf unsere Gesellschaft nicht zu zählen. Dass wir ein „Bedürfnis“ danach haben, ohne es zu wissen, das hat ja die Elendsverwaltung schon in ihrem Subjektbegriff versucht darzulegen, und dazu haben wir ja schon etwas geschrieben. Nur noch so viel: Um Bedürfnisse ging es in der Psychoanalyse zu ihren besseren Zeiten jedenfalls nicht, sondern um Triebe; ein Freispruch aus psychoanalytischer Hinsicht wie es uns als Bedürfnis untergeschoben wird wäre ja am ehesten dadurch motiviert, dass wir einen unterdrückten Trieb haben, dem wir nicht folgen können, weil er tabuisiert ist. Dann gibt es jemanden, der seine Triebe auslebt, und deswegen durch die Wächter des Tabus, welches uns als Gruppe noch hemmt, verurteilt wird; in der Folge sprechen wir ihn frei, weil wir uns selbst freisprechen wollen, weil wir uns durch Übertragung mit dem Verurteilten identifizieren. Die Sanktion gegen ihn richtet sich auch gegen uns. Die Elendsverwaltung scheint genau das über uns zu denken. In Bezug darauf, dass wir keine Antizionisten sind, heißt es: „ Aber was nicht ist, ist leider nicht ausgeschlossen noch zu werden“ – wir haben uns also durchaus verdächtig gemacht, vielleicht doch Antizionisten zu werden, bzw. es insgeheim schon zu sein, und insofern wäre unser „Bedürfnis“ nach einem Freispruch für Antizionisten gerade dadurch motiviert, dass wir selber welche sind, und wie wir ja schon wissen: Dann sind wir auch Antisemiten, und das sind wir, weil wir unser durchs Leben gebeuteltes Gemüt durch Gewalt gegen den Juden kühlen wollen.
Wir können uns nicht dagegen wehren, dass solche „Analysen“ über uns angestellt werden, sondern müssen damit leben, und versuchen, das Beste draus zu machen. In diesem Fall ist das Beste, was wir machen können, weniger über diese „Analyse“ zu sprechen, als über das eklatante Missverständnis, auf welchem sie fußt. Denn das Missverständnis, ob wir das nun als Bedürfnis haben oder nicht, besteht ja darin, dass wir – selbst wenn es uns darum gehen würde – niemanden freisprechen. Aber wie kommt das Missverständnis zustande? In unserem Redebeitrag jedenfalls kommt kein Freispruch vor, weder vom Wort, noch vom Inhalt her – wieso hat die Elendsverwaltung den Eindruck, es sei dennoch so? Schauen wir uns das Ganze einmal an.
Was wir in unserem Text dargestellt haben, ist ja unter anderem dies: dass der Begriff des Antisemitismus gelitten hat durch die vergangenen Jahre und dass er sich gewandelt hat: von einer Selbstbezeichnung hin zu einem analytischen und kritischen Begriff, hin zu einem Schmäh- und Schimpfwort. Was ist denn die Folge von so einem Wandel? Die Folge von so einem Wandel ist, dass der Begriff von seinem Umfang her gesprengt wurde. Er sagt zu vieles und damit zu wenig aus, und er ist nur noch schwerlich auf die eine oder die andere Weise zu benutzen; egal, was man tut, kommt doch der ein oder andere Inhalt hinzu. Nicht wir als Gruppe haben das zu verantworten oder finden das gut, oder sonst etwas, sondern das ist eine Entwicklung, die man in der Wirklichkeit beobachten kann, wenn sie einen noch interessiert. Es ist ein Problem von Theoriebildung überhaupt, dass sie dazu tendiert, einen esoterischen Begriffsapparat zu erzeugen, also Begriffe zu verwenden, die nach außen hin nicht verständlich sind, weil sie eine inhaltliche Aufladung bekommen, die nur Eingeweihten bekannt ist. Ein besonderes Problem aber entsteht, wenn die Begriffsverwendung mit den unterschiedlichsten und jeweils für sich gewichtigen Aufladungen angefüllt ist, sodass die sinnvolle Verwendung des Begriffs nur noch dann möglich ist, wenn er gegen die anderen abgedichtet wird. Dadurch wird der Begriff stillgestellt, verliert seine Eigenbewegung und damit seine Qualität als Begriff. Er soll ja gerade dazu taugen, das, was ist, darzustellen, aber das kann er nur, wenn er seine Eigenbewegung behalten kann. Der Begriff Antisemitismus ist durch seine vulgäre Verwendung einerseits und seine Abdichtung gegen Veränderung andererseits in einen leblosen Zustand eingetreten, was es schwierig macht, ihn kritisch zu verwenden. Das, was nun die Elendsverwaltung – wie auch andere Gruppen – versuchen, ist ihn weiterhin kritisch zu verwenden, ohne dabei kritisch zu sein: Er wird verwendet, ohne seine Abschleifungen und Zurichtungen zu reflektieren und diese aus der gesellschaftlichen Bewegung insgesamt zu verstehen. Denn nicht subjektiver Mangel seiner Verwender:innen ist es, der ihn zugerichtet hat, sondern der Mangel des gesellschaftlichen Zustandes insgesamt, der sich durch die Subjekte vermittelt.
Hierüber scheint der Elendsverwaltung jedes Bewusstsein zu fehlen, was dann zu dem fatalen Unverständnis gegenüber den Ausführungen des Redebeitrags führt. Der Begriff Antisemitismus wird als Eigentum betrachtet, und weil er einem selbst gehört, darf man ihn auch verwenden, wie es einem passt; die Verwendung durch andere ist bedeutungslos. Genau diesen Mangel, den die Elendsverwaltung unfreiwillig demonstriert, haben wir in unserem Redebeitrag aber ins Bewusstsein heben wollen. Es geht eben gerade nicht um die richtige Verwendung des Begriffs des Antisemitismus. Es geht nicht darum, ihn im eigenen Sinne als Herr im Hause zu gestalten, sondern es geht darum, den Verfall des Begriffs zu verstehen, und den sich darin ausdrückenden Wandel der Gesellschaft nachzuzeichnen. Im Kontrast hierzu wird der Begriff dann selbst weiter ruiniert, indem er sowohl als Schmähwort genutzt, als auch als analytischer Begriff verwendet werden soll. Das sieht auch die Elendsverwaltung fast ein:
„Deshalb geht es bei der Kritik des Antisemitismus nicht darum, jemanden mit einem „Schmähwort“ bloßzustellen, weil man selbst es besser weiß, sondern versucht sich dadurch Gesellschaftskritik zu artikulieren, denn die Gesellschaft ist die Grundlage des Antisemitismus und nicht die Verdorbenheit des Einzelnen, auf den es aber trotzdem gleichzeitig ankommt.“
Aber gerade das wird ja nicht geleistet. Stattdessen wird ganz blind gegenüber der eigenen Position daran festgehalten, dass diejenigen, die sich selbst jetzt Antizionisten nennen, eben unbedingt und bedingungslos als Antisemiten zu bezeichnen sind, als könne man damit einfangen und bannen, was gar nicht mehr einzufangen ist. Genau dieses In-den-Bann-Schlagen ist das Anliegen der Elendsverwaltung: Zwar geht es einem nicht um „die Verdorbenheit des Einzelnen“, aber man glaubt, ihn dennoch damit gefasst, und damit auch im Griff zu haben. Und auch hier ist etwas dran: Erst durch den Begriff erlangt man das Verständnis der Sache. Wenn dazu die Herrschaft über den Begriff notwendig ist und man aber dann dessen Bewegung nicht folgt, verliert er seine Kraft. Denn der Begriff bewegt sich, weil das, was er begreift, sich auch bewegt.
Als Konsequenz von dieser Statik im Denken wird die wesentliche Veränderung, und damit das, worum es im Redebeitrag ging, nicht verstanden. Der Punkt, den wir in der Kürze eines Redebeitrags so darstellten:
„Für den Antisemiten war der Jude schuld am ausufernden Zwang des gesellschaftlichen Prozesses, für all das Elend, dass dabei war, die Welt zu verschlingen. In dieser widersinnigen und wahnhaften Verzerrung der Welt ist der Mord an den Juden das subjektive Erleben des Kampfes um die Freiheit durch die Verwirklichung des gesellschaftlichen Irrsinns gegen den Menschen.“
würde die Elendsverwaltung vermutlich teilen, ihn aber auf das Heute strecken und denken, dass diese Situation so auch weiter fortbesteht.
Und im Redebeitrag geht es weiter: „Antizionisten sehnen den Untergang der alten Ordnung herbei. Sie identifizieren sich nicht mit dieser Ordnung, sondern mit der Gewalt gegen diese Ordnung. Deswegen erscheint ihnen der Angriff der Hamas als Befreiung. Nicht weil Juden dort niedergemetzelt wurden, sondern weil der Kampf gegen die Aufrechterhalter des Alten, des vergehenden gesellschaftlichen Zwangs begonnen hat.“
Die alte Ordnung, das ist in diesem Kontext die gegenwärtige Ordnung, die Ordnung, für dessen negative Auswirkung der Antisemit den Juden verantwortlich macht. Der Antizionist richtet sich nicht mehr gegen den Juden als den Verantwortlichen für die negative Seite des gesellschaftlichen Ganzen, sondern der Antizionist richtet sich gegen diese Ordnung im Ganzen. Nicht mehr der Jude wird als Verursacher der negativen Auswirkungen der bürgerlichen Gesellschaft gesehen, sondern die bürgerliche Gesellschaft als Ganzes erscheint als negativ. Alles Schlechte geht von dieser Ordnung aus.
Wer hierin einen „Freispruch“ sieht, verpasst die Dimension dessen, was sich in der Welt gerade abspielt. Wir zitieren uns nochmal selbst aus dem Beitrag:
„Dass mit ihnen keine bessere, sondern eine noch schlimmere neue Ordnung aufzieht, sehen sie nicht. Und das ist es, was sie gefährlich macht, nicht die Frage, ob sie Juden hassen oder nicht.“
Hiermit wird niemand „freigesprochen“ oder ähnliches, hier wird die Dimension der Bedrohung aufgezeigt, die sich aktuell in den unterschiedlichsten Strömungen, unter anderem auch im Antizionismus ausdrückt. Und die Bedrohung kommt dabei nicht von den gewalttätigen und grausamen Einzelnen, die sich nennen können, wie sie wollen, und es ändert sich nichts an ihrer Grausamkeit. Die Bedrohung kommt aus dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand und Prozessen, die in ihm ablaufen, auf den die Menschen dann auf die aktuelle Weise reagieren, weil die Prozesse dunkel und unverstanden sind.
Hier glaubt die Elendsverwaltung wesentliches schon geleistet zu haben. Sie ist über alles schon hinaus, sie weiß, was richtig und was falsch ist, hat die Gesellschaft ausreichend verstanden, und kann aus dieser festen und hohen Position das Urteil sprechen. Das selbstgefällige Urteil über uns als Gruppe fällt dabei weitestgehend negativ aus, was wir hier als letzten Punkt thematisieren werden.
4. Deutscher denken als gedacht
Die Elendsverwaltung führt mehrere Angriffe auf uns durch, wohl mit dem Ziel, uns zu diskreditieren. Wie schon die Verfasser andere Texte, die sich uns gegenüber in erhabene Position bringen wollten, wird uns wohl eine gewisse Bedeutung zugesprochen, eine gewisse „Reichweite“. Und da das, was wir sagen, für falsch empfunden wird, gilt es, dies zu unterbrechen, sich selbst Reichweite zu verschaffen, und so das eigene Denken als richtiges zu etablieren.
Dagegen spricht erstmal gar nichts. Wie schon dargelegt, geht es uns nicht um Zustimmung, sondern darum, gemeinsam die Fähigkeit zu entwickeln, die gegenwärtigen Verhältnisse zu begreifen. Es ist klar, dass alleine hierin schon eine Kränkung liegt: die Kränkung, zu sagen, dass das noch nicht so ist. Dass das, was alle schon denken – egal in welcher Ausprägung – noch mangelhaft ist. Und gerade jene, die sich auf ihr Denken etwas einbilden, können und wollen das nicht glauben. Das subjektive Gefühl, es doch bereits besser zu wissen, verhindert, sich mit unseren Inhalten zu befassen, und reizt zum Angriff, der dann doch nur eine Abwehr ist, die Abwehr des Gefühls, über welches man sich schon hinauswähnte: das Gefühl des geistigen Mangels. Dies ist es, was einen zum Angriff treibt, und für einen Angriff braucht man eine Waffe: Die gewählte Waffe ist bisher die Polemik.
Jetzt haben wir in der Antwort auf eine vergangene „Kritik“ an uns schon einmal kurz etwas zur Polemik gesagt und wir wollen es hier nochmal tun, diesmal aber etwas ausführlicher, und wir wollen einmal sagen, was das mit der Polemik als Mittel denn so auf sich hat.
Zuerst einmal möchten wir unterscheiden zwischen der Polemik als reines rhetorisches Mittel und der politischen Polemik in der radikalen Linken. Während ersteres ganz einfach eine bestimmte Technik ist, folgt die politische Polemik in der radikalen Linken einem politischen Ziel. Hier geht es nicht darum, irgendeiner Sache mit unfairen Mitteln zum Sieg zu verhelfen, sondern es geht darum, etwas politisch Bedeutsames zu seinem Recht zu verhelfen im gemeinsamen Anliegen. Denn unser gemeinsames Anliegen ist ja die Befreiung: dass der Mensch über die Verhältnisse das wisse, was er braucht, um sie in seinem Sinne zu beeinflussen und nicht ihr blindes Objekt ist.
Wesentlich zur Etablierung der Polemik in diesem Kontext haben Marx und Engels beigetragen, und ihre Position hierzu erfuhr zuletzt eine engagierte Würdigung Anfang der 2000er, als die Antideutschen zum Gefecht gegen die theoretischen Restpositionen der radikalen Linken zu Felde zogen. Besonders populär für die eigene Rechtfertigung ist eine Passage aus Marx` Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, die wir hier kurz zitieren:
„Krieg den deutschen Zuständen ! Allerdings ! Sie stehn unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik, wie der Verbrecher, der unter dem Niveau der Humanität steht, ein Gegenstand des Scharfrichters bleibt. Mit ihnen im Kampf ist die Kritik keine Leidenschaft des Kopfs, sie ist der Kopf der Leidenschaft. Sie ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will. Denn der Geist jener Zustände ist widerlegt. An und für sich sind sie keine denkwürdigen Objekte, sondern ebenso verächtliche als verachtete Existenzen. Die Kritik für sich bedarf nicht der Selbstverständigung mit diesem Gegenstand, denn sie ist mit ihm im reinen. Sie gibt sich nicht mehr als Selbstzweck, sondern nur noch als Mittel. Ihr wesentliches Pathos ist die Indignation, ihre wesentliche Arbeit die Denunziation. […] Die Kritik, die sich mit diesem Inhalt befaßt, ist die Kritik im Handgemenge, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen.“
Marx und Engels hatten gute Gründe für ihre Position. Sie mussten sich in einem geistigen Umfeld behaupten einerseits, welches gänzlich gegen sie gerichtet war; sie versuchten andererseits, den Mut und die Kraft zu versammeln, sich dem erdrückenden Zwang der Verhältnisse entgegenzusetzen, und das nicht nur für sich selbst, sondern für alle. Ihre Angriffe waren Angriffe gegen das Falsche schlechthin, ungeachtet dessen, wer es aussprach. Denn wer blind die Partei für das Falsche ergriff, war damit nur blinder Ausdruck des Falschen, und da so jemand den Sieg des Falschen absichern wollte, war Marx und Engels jedes sprachliche Mittel recht.
Es bedarf schon einer gewissen Selbstverliebtheit, sich diese Position zu eigen zu machen. Denn wenige haben Vergleichbares geleistet, in der radikalen Linken wohl niemand. Aber weil die Sache der postmodernen bürgerlichen Gesellschaft, das der Identität ist, fühlt man sich halt identisch mit allem, womit man sich identisch fühlen will, und bei jenen, die von Marx` geistiger Wucht beeindruckt sind, wird ganz gegen seine Theorie sich mit Marx identifiziert. Man ist als Marxist vielleicht selbst ein kleiner Marx und damit ausgestattet mit allem Recht, polemisch draufzuhauen, wenn es einem in den Sinn kommt. Ähnlich erging es den Antideutschen: An wenigen, die zum Ziel ihrer Polemik wurden, ging diese spurlos vorbei und so umstritten sie auch zu allen Zeiten schon gewesen sind, hatten sie doch auch schon bald ihre Anhänger, die aber die Polemik der Antideutschen sich nur der Form nach aneignen konnten. Da ihnen das geistige Rüstzeug fehlte, welches einen Angriff gegen das Falsche schlechthin zu führen irgendwie ermöglicht hätte, adaptierten sie nur antideutsche Phrasen, mit denen sie dann hofften, die gleiche Wirkung zu erzielen, wie die von ihnen bewunderten Antideutschen.
Egal, wie oft heute noch der Titel „antideutsch“ verwendet wird, um irgendwen zu diskreditieren: Die Antideutschen sind Geschichte. Sie haben erst ihren Biss, dann ihre Relevanz und dann ihre Strukturen verloren, und was von ihnen übriggeblieben ist, existiert fort jenseits aller öffentlichen Wahrnehmung. Jene, die heute als Antideutsche geschmäht werden, sind keine mehr und waren es sehr wahrscheinlich auch nie. Das Momentum der Antideutschen ist vorbei, und zwar deswegen, weil sie sich gegenüber den Verhältnissen, die sie kritisierten, nicht haben behaupten können. Die Vermittlung, um derentwillen sie sich für die Polemik entschieden, gelang nicht, aber sie können für sich beanspruchen, das traditionelle geistige Klima in der radikalen Linken aufgewirbelt und auch in beträchtlichem Ausmaß für ein Umdenken gesorgt zu haben. Ein Umdenken, das allerdings keine dauerhafte eigene geistige Kraft hat hervorbringen können, sodass sich in der gegenwärtigen radikalen Linken bürgerliche und reaktionäre Kräfte durchsetzen.
Vergangene und lebendig ausgetragene Konflikte besitzen eine Strahlkraft, und so kommt es, dass diejenigen, die nicht dabei waren, wünschen, es würde wieder so werden, wie sie denken, dass es einmal war: Sie betreiben Mimikri. Das bedeutet einmal kurz gesagt: Sie spielen jene nach, mit denen sie Identität verspüren, ungeachtet der Tatsache, dass es so eben nicht mehr passt. Aber in Zeiten, wo alle sich ihre eigene Realität erschaffen können und sollen, spielt das keine Rolle mehr.
Eine solche geistige Situation rechtfertigt keine Polemik, erklärt aber, wieso sie als Mittel gewählt wird. Sie ist selbst der Stumpfsinn, gegen den sie ins Feld führen will, Ausdruck alltäglicher Orientierungslosigkeit in einer Zeit, die so haltlos ist, dass man an nichts mehr Halt findet als an seiner eigenen Rezeption des Vergangenen. Damit wird man zu dessen Apologeten.
Wir sind nicht bereit, uns damit abzufinden. Das Niveau der politischen Auseinandersetzung muss gesteigert werden, weil die politische Auseinandersetzung das Einzige ist, was uns in die Lage versetzt, dass wir uns gegenüber den falschen Verhältnissen behaupten. Wir sind sehr dafür, dass unsere Texte kritisiert werden. Voraussetzung dafür ist aber, dass man sie verstanden hat, und wer das tut, der kann polemisch sein, wie er will. Wenn aber in der Polemik unsere Position gar nicht mehr auftaucht, wenn stattdessen nur noch derjenige auftaucht, der sich in seiner Identität gekränkt fühlt, weil gesagt wird, was nicht im eigenen Sinne ist, dann ist Polemik vor allem eins: lächerlich.
Einige von alea
